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Das Ding mit dem Älterwerden der Eltern

Gestern habe ich mit den Pflegenden und der Ärztin abgesprochen, dass das Morphin erhöht wird, weil meine Mutter vor Schmerzen wimmert und seit 3 Tagen nicht gegessen und kaum getrunken hat. Ich habe die Betreuungsvollmacht. Es wird erwartet, dass ich die Entscheidungen treffe.

Heute komme ich in die Einrichtung und werde von der diensthabenden Alltagsbegleiterin freudig begrüßt mit den Worten „Ihre Mutter hat heute ordentlich reingehauen. Zum Frühstück Joghurt mit Banane und zum Mittagessen ein halbes Schnitzel mit Kartoffelbrei!“ Ich gehe ins Zimmer meiner Mutter. Frage sie, warum sie jetzt isst. Ich habe doch durch meine gestrige Entscheidung gehofft, dass ihr Leidensweg leichter wird. Und kürzer. „Und jetzt fängst Du an zu essen?!“ Wut steigt in mir auf.

Eine Antwort auf meine Fragen bekomme ich schon seit Wochen nicht mehr. Ich weine. Ich habe Schuldgefühle. Habe ich eine Fehlentscheidung getroffen? War es zu früh, dass Morphin zu erhöhen? Wieso bin ich wütend? In einem Monolog, an ihrem Bett stehend, rechtfertige ich mich, dass ich doch nur ihr Bestes will.

Nicht nur wir werden älter, auch unsere Eltern. Und irgendwann kommt der Punkt, da dreht sich das Verhältnis und wir Kinder sind verantwortlich für unsere Eltern. Müssen plötzlich Entscheidungen für sie und mit ihnen treffen und sie bei Veränderungen wie z.B. Umzug unterstützen. Zusehen, wie der Zahn der Zeit an den Eltern nagt und den Weg in den Tod begleiten.

Meistens kommt der Punkt, an dem sich das Verhältnis ändert, plötzlich. Ein Sturz, ein Schlaganfall, einsetzende Demenz. Als Kind muss man auf einmal Entscheidungen treffen und eine Verantwortung übernehmen, die man vorher nicht hatte. Schnell setzt Überforderung ein. Und Hilflosigkeit. Und Schuldgefühle begleitet von der immer wiederkehrende Frage: „Mache ich das Richtige?“

Ich will das Beste für meine Eltern aber ist mein Bestes auch im Sinn meines Vaters/meiner Mutter? Immerhin wollten unsere Eltern auch immer nur unser Bestes, aber fanden wir das immer gut?

Wenn Geschwister vorhanden sind, muss mein Bestes auch noch mit dem Besten der Geschwister abgeglichen werden und Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Oder auch nicht. Denn Geschwister sind ja auch nicht immer einer Meinung. Spätestens dann fallen Sätze wie „Mama/Papa hätte das so gewollt!“ Gegenfrage: „Woher weißt Du das? Hast Du mal mit ihr/ihm darüber gesprochen?“ Egal ob mit Geschwistern oder als Einzelkind, plötzlich wird einem bewusst, dass die Eltern immer sowas zeitlos Unantastbares waren. Eltern sind immer da und der Gedanke, dass unsere Eltern mal „nicht mehr sind“, ist all die Jahre verdrängt worden.

Verdrängung kann unter Umständen hilfreich sein. In diesem Fall ist Verdrängung allerdings kontraproduktiv. Denn spätestens wenn der Tag x kommt, trifft es Dich mit voller Härte und Du fragst Dich, warum Du nicht mal mit Deinen Eltern darüber gesprochen hast.